Das Zusammenleben mit Deiner „neuen Familie" ist sicher einer der spannendsten Aspekte während Deiner Zeit in Spanien. Deine zukünftige Gastfamilie hat sich lange Gedanken gemacht, bevor sie sich entschlossen hat, ein weiteres Familienmitglied bei sich aufzunehmen. Das wirst Du nämlich sein: kein Gast, sondern ein weiteres Familienmitglied!
Sie freuen sich darauf, dass Du ihre Sitten und Gebräuche teilst, dass Du an ihrem Alltag teilnimmst, mit ihnen isst, sie auf Feste begleitest, kurz gesagt, Dir alle Mühe zur Integration gibst. Sie erwarten von Dir, dass Du Dich an die Familienregeln hältst. Du musst also unbedingt die Autorität der Gastfamilie in Bezug auf Ausgehzeiten, Rauchen, Verabredungen, Gäste und Haushaltspflichten anerkennen.
Im Anschluss ein paar Tipps, die Dir das Familienleben am Anfang leichter machen sollen:
Kommuniziere, kommuniziere…und bitte nicht nur mit dem Computer!
Die Spanier sind sehr warmherzig, oft sehr überschwänglich – und vor allen Dingen redselig! Zuhören fällt den Spaniern manchmal schwerer als selber Geschichten zu erzählen.
So kann es vorkommen, dass an einem Tisch zehn Leute zur selben Zeit reden. Diese für uns oft „aggressive" Art der Kommunikation verlangt von uns viel Geduld und Nerven. Aber Du wirst Dich sicher nach einer gewissen Zeit daran gewöhnen und feststellen, dass es manchmal nicht anders geht als dem Gegenüber dreist ins Wort zu fallen.
Solltest Du eher ein kühler und zurückhaltender Typ Mensch sein, bleibt Dir leider nichts anderes übrig als an Dir zu arbeiten, denn die Spanier können mit distanzierten Menschen nur schwer umgehen. Sobald sie jedoch sehen, dass Du Dich öffnest und sie an Deinem Leben teilhaben lässt, werden sie Dich mit offenen Armen und Herzen aufnehmen.
Eine wichtige Anmerkung zur unseren virtuellen Welt:
Von Jahr zu Jahr häufen sich die verzweifelten Beschwerden der spanischen Gastgeber, dass ihr Schüler 10 Mal mehr Zeit in seinem Zimmer vor dem Computer verbringt als mit der Familie! Das geht leider gar nicht! Die Familie ist kein Hotel, in der man nur kurz zum essen erscheinen muss, um dann wieder mit den virtuellen Freunden zu chatten. Erstens ist das respektlos der Familie gegenüber, zweitens verpasst man so das reale Leben in Spanien. Und darum geht es ja eigentlich.
Bitte verbringe deswegen so wenig Zeit wie möglich mit Deinem Computer.
Das gilt auch für die Phasen, in denen es Dir vielleicht einmal nicht so gut gehen sollte: rede mit Deiner Gastfamilie. Solange deine Familie weiß, was in Dir vorgeht und Du offen mit ihnen über alles sprichst, wirst Du kaum Probleme haben. Kompliziert wird es, wenn Du Dich nicht äußerst. Die spanische Familie ist dann in der Regel ziemlich ratlos und fühlt sich schnell überfordert.
Das spanische Problem des „Grenzensetzens"
Nach unserer Erfahrung fällt es den spanischen Gastfamilien häufig schwer Limits zu setzen, was ihre eigenen Möglichkeiten betrifft, dem Gastschüler eine schöne Zeit zu bereiten. Viele Gasteltern fahren durch die ganze Stadt, um den Schüler zum Tennis zu bringen, zahlen alles, was eigentlich der Teilnehmer selbst bezahlen müsste und ändern oft ihren kompletten Lebensstil, damit der Gast bloβ zufrieden ist.
Viele Nordeuropäer können viel leichter sagen, was sie wollen und was nicht, Spanier sind da in der Regel weniger durchschaubar.
Die Konsequenz ist nicht selten, dass eine Familie nach zwei Monaten völlig erschöpft ist und den Aufenthalt des Schülers nicht mehr genießt, sondern eher als Belastung empfindet. Hier musst Du unbedingt aufpassen und intervenieren, wenn Du merkst, dass die Familie sich aufarbeitet. Sei aufmerksam, bitte biete Hilfe an, bezahle selbst für Deine persönlichen Angelegenheiten und mache ihnen klar, dass Du keine Extrabehandlung brauchst, sondern ein ganz normales Familienleben kennen lernen willst.
Konfliktlösung
Spanier mögen keine Konflikte und meiden sie auf Teufel komm raus. Wenn sie etwas zu beanstanden haben, wird dies sehr oft indirekt kommuniziert. Manchmal wird auch nur die Koordinatorin informiert, und die Gastfamilie äußert sich gar nicht ihrem Gastschüler gegenüber. Viele Nordeuropäer hingegen kommunizieren sehr direkt, wenn ihnen etwas nicht passt und können gar nicht verstehen, wenn ihnen Kritik nicht geradeaus und direkt mitgeteilt wird.
Also nicht wundern, wenn Du über deine Betreuungsperson erfährst, dass Deine Gastmama gerne hätte, dass du beispielsweise Dein Zimmer besser aufräumst. Spanier meiden Streitgespräche und bevorzugen deswegen oft indirekte Mitteilungen. Einfacher wird dadurch die Kommunikation natürlich nicht, aber wir sind da, um Dich auch hierbei zu unterstützen.
Tagesablauf/Mahlzeiten
Der spanische Tagesablauf erfordert ebenfalls einige Umstellung: Das Frühstück ist leicht – ein Kaffee mit einem Toast oder Keks, so dass man sich als Nordeuropäer eventuell noch ein Sandwich in der Schule kaufen muss. Das Mittagessen zwischen 14 und 15 Uhr besteht meist aus verschiedenen kleinen Gerichten. Die Spanier essen noch einmal sehr spät am Abend (zwischen 21 und 22 Uhr).
Für viele Gastschüler ist das häufig frittierte Essen ungewöhnlich. Fleisch steht an der Tagesordnung und Vegetarier sind in Spanien immer noch eine selten anzutreffende Spezies.
Einzige mögliche Reaktion: Toleranz und Akzeptanz. Bitte sei nicht einer von den typischen Gastschülern, der in jedem Essen rumstochert und durch große Kompliziertheit die Stimmung in der Familie trübt.
Die Familie wird sich Deinen Essgewohnheiten nicht anpassen, sondern immer umgekehrt! Vermisst du irgendetwas so stark, dass du meinst darauf nicht verzichten zu können, bitten wir Dich inständig, Dir dies unkompliziert einfach selbst zu kaufen.
Des Weiteren hatten wir in den letzten Jahren vermehrt Jugendliche zu Gast, die der Familie buchstäblich die Haare vom Kopf wegaßen. Die Familien können teilweise nur staunen, wie viele Teller ihr neuer Gastschüler verdrückt. Natürlich sollst du satt werden, aber bitte sei auch hier sensibel und verstehe, dass wir keiner Familie zumuten können, dass sie für eine ganze Bergmannschaft kocht.
Gemeinsames Essen ist wichtig in Spanien und die typisch nordeuropäische Sitte, ein schnelles Sandwich auf der Hand im Gehen zu essen, kennt man nicht und wirkt auf die Spanier eher seltsam!
Solltest Du einmal nicht zum Essen kommen können, musst Du Dich unbedingt abmelden. Einfach nicht erscheinen ist unakzeptabel, da die Familie sonst schnell das Gefühl bekommt, dass ihr Heim als Hotel genutzt wird…
Während der Mittagszeit (zwischen 14h und 17h) sind die meisten Geschäfte geschlossen und man hat oft den Eindruck die ganze Stadt ruht sich bis zum abendlichen Trubel aus. Trotz der häufig langen Nächte ist es üblich, dass die Familie am Wochenende zusammen frühstückt. Bei der großen Mehrzahl der Gastfamilien ist das abendliche Ausgehen der Jugendlichen unter der Woche nicht üblich. Die Familie wird dann nach dem Essen einfach noch eine Weile zusammensitzen oder gemeinsam einen Film ansehen.
Im Übrigen: der häufig während des gesamten Tages laufende Fernseher ist etwas völlig Normales in Spanien. Auch hier kann ich nur an Deine Toleranz appellieren, egal wie fremd Dir dies erscheinen mag.
Privatsphäre
Im Vergleich zu Nordeuropa gibt es in Spanien weniger Privatsphäre zwischen den einzelnen Familienmitgliedern. Die Zimmertüren stehen immer offen und es wirkt für Spanier befremdlich, wenn Gastschüler ohne Erklärung hinter sich die Tür verschließen. Dies empfinden viele Jugendliche als anstrengend, da ihnen plötzlich der eigene Raum zum Abschalten fehlt. Mit einem offenen Gespräch kann man diesen Kulturunterschied aber häufig in den Griff bekommen.
Oft leben die spanischen Kinder bis zu ihrem 30. Lebensjahr (oder länger) bei ihren Eltern. Ein Großteil verlässt erst dann das Elternhaus, wenn geheiratet wird.
Des Weiteren besteht eine typische spanische Familie nicht nur aus Eltern und Kindern, sondern auch aus Großeltern, Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen, die oft ebenso im Haus aus- und eingehen. Es kommt auch nicht selten vor, dass mehrere Generationen einer Familie unter einem Dach wohnen, sei die Wohnung auch noch so klein.
Auch das Wochenende kann nicht immer privat verplant werden. Manche Spanier fahren oft am Wochenende in ihre Heimatstädte oder aufs Land, besonders wenn sie dort Angehörige haben.
Ein sonntägliches ausgiebiges Mittagessen im Rahmen der gesamten Großfamilie ist ebenso üblich – und oft auch ein Muss.
Weniger Freiheit
Das vorherrschende Bild des ‚lockeren Spaniers' stimmt nicht immer mit der Realität überein. Die Spanier sind selbst in den Großstädten häufig sehr konservativ und traditionell. Mit weniger Freiheit ist nicht gemeint, dass Du jeden Abend um 22h zu Hause sein musst. Die Freiheitseinschränkung wirst Du wahrscheinlich auf subtilere Art erleben – z. B. bei der Erziehung.
Auf folgendes musst du dich einstellen – und einlassen:
Im spanischen Familienleben werden Jugendliche eher als Kinder betrachtet und häufig bei Diskussionen nicht als gleichwertige Gesprächspartner angesehen. Es ist gut möglich, dass Dir Deine Gastmutter im belehrenden Ton sagt, dass Du Dich warm anziehen und im Verkehr aufpassen sollst, aufessen musst, etc. Bei Meinungsverschiedenheiten wird nur selten Widerrede akzeptiert. Man ist als jüngeres Familienmitglied also oft gezwungen, Dinge zu schlucken, ob sie einem nun passen oder nicht.
Dir wird sicher auch auffallen, dass die „klassischen" spanischen Eltern sich rund um die Uhr Sorgen um ihre Zöglinge machen, und sie im wahrsten Sinne des Wortes behüten. Spanische Jugendliche sind deswegen tendenziell weniger selbständig und wirken manchmal weniger reif als Jugendliche, die aus Kulturen stammen, wo die Eltern mehr Wert auf die Unabhängigkeit ihrer Kinder legen.
Einfach nett sein und auch mal lächeln!
Klingt nach einem überflüssigen Tipp – so ist es aber leider nicht! Viele spanische Familien vermissen ein gelegentliches Lächeln, ein Mitdenken und Helfen im Haushalt, ein nettes „Guten Morgen" und „Gute Nacht" bei ihren Gastkindern.
Wir denken, dass die Familien nicht zu viel verlangen und bitten Dich, dass Du beim Haushalt mit anpackst, Deine Wäsche zusammenlegst, Dein Zimmer ordentlich hältst, Dich selber pflegst und Deodorant benutzt und Deine Hilfe anbietest. Um es kurz zu machen: Wir bitten Dich, der Familie ein angenehmes Zusammenleben zu ermöglichen. Dazu gehört auch, dass man fragt, bevor man den Kühlschrank aufmacht und sich nicht einfach bedient.
Wir hoffen, Du fühlst Dich durch diese Zeilen nicht angesprochen. In der Vergangenheit gab es Gastschüler, die ihre Füße auf den Tisch legten, sich nicht wuschen und sich ungefragt mitten in der Nacht am Kühlschrank bedienten. Diese unangenehmen Erfahrungen zwingen uns zu solchen Hinweisen.
In meinem Land ist alles besser…
Diesen Satz solltest du nicht einmal denken. Zu unserem großen Bedauern bekommen wir nicht selten das Feedback von den Gastfamilien, dass verschiedene ihrer Verhaltensweisen oder Gebräuche von den ausländischen Jugendlichen belächelt werden. Häufig wird eine überhebliche und arrogante Haltung beobachtet und viele Vergleiche zu dem angeblich so viel besser funktionierenden Heimatland gezogen. Dies ist für die spanische Seite sehr verletzend und zeugt von fehlender Anpassungsbereitschaft und Integrationsfähigkeit. Denke IMMER daran, wie privilegiert Du bist, dass du für einige Zeit eine andere Art zu leben kennen lernen darfst. Vergleiche hinken immer, und wenn man wirklich davon überzeugt ist, dass zu Hause alles viel besser ist, sollte man sich überlegen, ob man nicht lieber auf einen Auslandsaufenthalt verzichten sollte.
Ermöglichst du der Familie einen Sprachaustausch bist du der König!
Die Spanier freuen sich unheimlich über die Möglichkeit mit Dir in einer anderen Sprache kommunizieren zu können. Die Sprachpraxis in den spanischen Schulen ist sehr gering und im Allgemeinen ist das Fremdsprachenniveau in Spanien nicht annähernd mit dem in vielen nördlichen Ländern zu vergleichen. Ein Austausch ist ein Geben und Nehmen, bitte zeig Dich erkenntlich und sprich mit der Familie, wenn sie das wünscht, ein paar Stunden (max. fünf Stunden) in der Woche in Deutsch oder Englisch, hilf deinen Gastgeschwistern ein bisschen bei den Hausaufgaben, etc. Du wirst sehen, wie unendlich dankbar Dir die Spanier dafür sein werden.